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Von der Atheistin zur Heiligen

Ein Artikel aus der Deggendorfer Zeitung  vom Donnerstag, 8. Oktober 1998

Von Heinz-Walter Schmitz und Hermann Schmidt

Vor dem Seiteneingang des Kölner Domes parken die Transporter einer Firma für "Event-Technik". Die Bemühungen des Unternehmens gelten der "Aufbruch-Messe", mit der 1300 jugendliche Teilnehmer am letzten Montag eine Romwallfahrt begannen - Edith Stein wird heiliggesprochen am Sonntag, bis dahin wollen sie's geschafft haben. Den Beobachter beschleicht Beklemmung angesichts der Requisiten und der Gesten, die den jungen Leuten abverlangt werden: rote Halstücher für alle, verordnetes Hand-auf-die-Schulter-legen, Händeschütteln, Abmarsch. Das Motto der Jugendwallfahrt ist "Komm, wir gehen für unser Volk" - diesen Satz hat Jüdin Edith Stein zu ihrer leiblichen Schwester Rosa angesichts ihrer Deportation in den sicheren Tod gesprochen. Sensibilität der Veranstalter? Die Altardekoration besteht aus einem Haufen Koffer. Der Berg bringt andere Bilder ins Spiel; die Bilder der KZ- Asservatenkammern: Hallen voller Koffer, Berge von Brillen, abgeschnittenes Frauenhaar.

Edith Stein, ab Sonntag eine katholische Heilige, ist eine beispiellose Frau unseres Jahrhunderts: Jüdin, atheistische Intellektuelle, Philosophin, Frauenrechtlerin, christliche Lehrerin, Dozentin, Ordensschwester, Mystikerin.

Was am Sonntag im Vatikan geschieht, ist neu: In der deutschen Ordensfrau Edith Stein wird erstmals eine Katholikin jüdischer Abstammung heilig gesprochen. Papst Johannes Paul wird dies während einer Messe im Petersdom tun, Helmut Kohl und Norbert Blüm werden dabeisein und Tausende deutsche Pilger. Doch schon die Seligsprechung vor elf Jahren in Köln hatte Widerspruch herausgefordert: "Jüdin, Philosophin, Ordensfrau, Märtyrerin", so hatte der Papst die intellektuelle Bekennerin gewürdigt. Allerdings gehen bis heute die Meinungen auseinander, ob die Karmeliterin - wie es das Kirchenrecht bei einer Heiligsprechung fordert - tatsächlich als Märtyrerin für den christlichen Glauben starb oder ob sie getötet wurde, weil sie jüdischer Abstammung war. Der Papst hat sich über diese kirchenrechtlichen Spitzfindigkeiten hinweggesetzt. Eigentlich reicht der folgende Satz von Edith Stein: "Sie glauben gar nicht, was es für mich bedeutet, Tochter des auserwählten Volkes zu sein, nicht nur geistig, sondern auch blutsmäßig zu Christus zu gehören."

Es war ausgerechnet die Priorin des Kölner Klosters, die den Nazis steckte, daß Schwester Teresia Benedicta dem Volk angehört, dem auch Christus entstammte. Wer aber nun war diese Frau wirklich, was wollte sie, was bedeutet sie den Nachgeborenen, in welcher Weise kann sie Vorbild sein?

Es ist offenbar nicht schwer, mit Edith Stein zurechtzukommen und mit ihr zu sympathisieren, weil sich Brücken zu ihrer Existenz aus allen Richtungen schlagen lassen. Was Biographen gerne Entwicklungen nennen, ist im Fall der Edith Stein die Abfolge tiefer und haarscharfer "Abschnitte": So trennt sie sich zunächst vom liberalen jüdischen Bürgertum, dann vom akademischen Milieu, gibt schließlich für sich persönlich die Ziele der Frauenbewegung auf.

Deshalb finden viele auf dem Lebensweg dieser Frau eine Station, die ihnen behagt. Nicht nur kirchliche Lager entrollen am jeweils genehmen Standort ihr Transparent, auch die Frauenbewegung will sie zu ihrer Heiligen machen. Die Erinnerung an Edith Stein basiert aber oft nur auf schmaler Kenntnis ihres Schaffens. Die heilige Edith Stein - das ist eine Heilige der "Ausgewählten Werke"; häppchenweise werden Zitate als literarische Devotionalien gehandelt.

Edith Stein wird am 12. Oktober 1891 in Breslau als elftes Kind einer jüdischen Holzhändlerfamilie geboren. Der Vater stirbt, als sie knapp zwei Jahre alt ist. Mit 14 Jahren bricht Edith Stein aus ihrer Familie aus und geht für ein Jahr zu ihrer Schwester nach Hamburg. 1911, nach dem Abitur, beginnt sie ein Studium in Breslau, Geschichte, Deutsch, Philosophie, Psychologie. Was sie darüber hinaus interessiert, zeigen ihre Mitgliedschaften bei den unterschiedlichsten Vereinigungen: So im "Preußischen Verein für Frauenstimmrecht", beim "Bund für Schulreform " und in der "Pädagogischen Gruppe" der Universität. Aber die experimentelle Psychologie "ohne Seele" enttäuscht sie. 1913 wechselt sie nach Göttingen zu Edmund Husserl, einem der bekanntesten Philosophen seiner Zeit. 1916 schließt Edith Stein in Freiburg ihre Doktorarbeit "Über die Probleme der Einfühlung" mit "Summa cum laude" ab, nachdem sie bereits 1915 das Staatsexamen als Lehrerin, ebenfalls mit Auszeichnung, abgelegt hatte. Edith Stein wird Assistentin bei Husserl und arbeitet an ihrer Habilitation. Die Kommilitonen spotten: "Manches Mädchen träumt vom Busserl, Edith aber nur vom Husserl." Als sie aber kein Ruf an einen Lehrstuhl erreicht, beschwert sie sich beim preußischen Kultusministerium. Doch die Zeit ist in Deutschland noch nicht reif für eine Frau auf dem Lehrstuhl einer philosophischen Fakultät.

In dieser Phase ihres Lebens bekennt sie sich als Atheistin. In ihren Arbeiten trifft Edith Stein immer wieder auf die Religion. Gleichzeitig ist sie Zeugin schrecklicher Kriegsschicksale bei ihren Bekannten. Sie erkennt, daß deren Bewältigung auf einem religiösen Fundament leichter durchzustehen ist. Diese Erkenntnis löst in ihr den Wunsch aus, das Christentum näher kennenzulernen.

In Freiburg trifft sie den Privatdozenten Adolf Reinach, dessen Religiosität sie stark beeindruckt: "Die Schranken der rationalistischen Vorurteile, in denen ich aufgewachsen war, ohne es zu wissen, fielen, und die Welt des Glaubens stand plötzlich vor mir. Menschen, mit denen ich täglich umgehe, zu denen ich mit Bewunderung aufblickte, lebten darin. Sie mußten zumindest eines ernsten Nachdenkens wert sein." Ausschlaggebend in ihrer religiösen Suche ist im Sommer 1921 die Begegnung mit der Lebensgeschichte der spanischen Mystikerin Theresia von Avila, die ebenfalls jüdischer Abstammung war. In ihren Schriften findet Edith Stein die Antworten auf ihre Fragen: "Das ist die Wahrheit." Edith Stein wird katholisch.

Ab 1923 unterrichtet sie in Speyer bei den Dominikanerinnen an der Lehrerinnenbildungsanstalt. Gleichzeitig hält sie Vorträge in ganz Deutschland. Bei den Salzburger Hochschulwochen zum Beispiel über "Das Ethos der Frauenberufe". Darin zeichnet sie ein neues Frauenbild, dessen Kontur bis in unsere Generation hineinragt. In Edith Stein wird der Wunsch wach, in einen Frauenorden einzutreten. Aber nicht nur ihre Familie steht dem mit Unverständnis gegenüber, auch der Abt von Beuron, Raphael Walzer, rät ihr davon ab, weil er ihr Wirken in der Welt und ihre Erziehungsarbeit an den jungen Menschen für wichtiger hält. Fast zwölf Jahre soll ihr Entscheidungsprozeß andauern.

Im Jahre 1932 nimmt sie in Münster eine Stelle als Dozentin beim "Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik" an. Ein Jahr später zwingt sie die Machtergreifung der Nationalsozialisten, ihre Vorlesungen einzustellen: Berufsverbot! 1933 versucht Edith Stein vergeblich, Papst Pius XI. zu einer Enzyklika zum Schutz der Juden zu bewegen. Im Sommer dieses Jahres trifft sie ihre Entscheidung: Sie tritt in das Kölner Kloster Karmel ein. "Nicht menschliche Tätigkeit kann uns helfen, sondern das Leiden Christi. Daran Anteil zu haben, ist mein Verlangen", antwortet sie auf die Frage, warum sie die Aufnahme in diesen Orden begehre. Der Karmel ist der strengste Frauenorden. Die Nonnen leben in Klausur, sie verlassen ihr Kloster eigentlich nie mehr. Am 14. April 1934 wird Edith Stein eingekleidet. Ihre Ewigen Gelübde legt sie am 21. April 1938 ab. Gegenüber anderen Schwestern genießt sie große Privilegien: Sie kann weiter wissenschaftlich arbeiten. Ihre Hauptwerke sind einsame Meditationen hinter Klostermauern, verfaßt als "Vermächtnis für Deutschland".

Als die Lebensbedingungen für die Juden nach der Reichskristallnacht im November 1938 immer schlechter werden, flieht Edith Stein nach Holland. Doch als im Mai 1940 die Wehrmacht die Niederlande besetzt, werden alle Nichtarier zu Staatenlosen erklärt. Am 2. August 1942 wird Edith Stein verhaftet. Sie hat zehn Minuten Zeit, ihre Sachen zu packen, und wird dann in das KZ Amersfoort und von dort in das Sammellager Westerbork gebracht. Bis zuletzt hat sie Lebensmut und -willen, hofft, doch noch in die Schweiz ausreisen zu können. Aber am 7. August 1942 wird sie nach Auschwitz abtransportiert. Ihr letztes Lebenszeichen stammt von einem Bahnbeamten im pfälzischen Schifferstadt, dem sie aus den Waggon heraus Grüße an Freunde aufträgt. Man nimmt an, daß Edith Stein am 9. August 1942 in die Gaskammer geschickt wurde. Vier leibliche Schwestern wurden ebenfalls umgebracht.

Die Heiligsprechung der Edith Stein bedeutet für die deutsche Erinnerung keine Entlastung. Sie starb nicht wegen ihres Christentums und auch nicht, wegen ihrer Ordenstracht - sie wurde ermordet, weil sie eine deutsche Jüdin war. Sie, die im Ersten Weltkrieg aus Patriotismus Lazaretthelferin war, mußte vor ihrem Volk fliehen, wurde von deutschen Landsleuten gefangengenommen, von Deutschen deportiert und vergast. Was sie aus den fünf Millionen ermordeter Juden heraushebt, ist die persönliche Vorahnung und die intensive christliche Vorbereitung auf den Tod. Karl Rahner hat gesagt: "Der Christ des neuen Jahrhunderts ist entweder ein Mystiker oder er wird keiner mehr sein." Ob ihr Vorbild für das neue Jahrhundert angenommen wird?